«Der Kopf wird leicht, der Kopf wird ruhig»
Bericht von Senta Walker
Sie nähen die Naht fertig, heben das Nähfüsschen, ziehen den Stoff darunter hervor und schneiden die Fäden ab.
Shukriye Heydari, Amene Nuri und Achinedu Enebeli verlassen ihren Arbeitsplatz, ihre Nähmaschine und kommen zum grossen Holztisch, der vor der Glasscheibe zum Büro steht. Wir befinden uns in der lichtdurchfluteten Produktionsstätte von KoKoté in Schattdorf.
Die drei Frauen sind Teil der Gruppe von Menschen in der Schweiz, die älter als 25 Jahre sind und eine Berufslehre machen. Laut Staatsekretariat für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI) gehören sie zu den 12 Prozent der Lernenden, die mit über 25 Jahren ihren Abschluss erwerben. Die Untergruppe «Frauen mit Fluchthintergrund älter als 40 Jahre» beschreibt sie noch besser. Doch dieser Begriff taucht in der Statistik des SBFI nicht auf. Dennoch gibt es sie, Frauen wie unsere drei angehenden Textilpraktikerinnen mit ihren Geschichten und Ausbildungserfahrungen. Sie berichten in dieser Tischrunde über eine besondere Bildungswoche.
Fünf Tage im Sportzentrum Kerenzerberg
Frau Heidary, Frau Nuri und Frau Enebeli sind zurück aus der Sportwoche der Schweizerischen Textilfachschule (STF) in Zürich. Im Sportzentrum Kerenzer Berg bei Filzbach verbrachten sie fünf Tage, in denen Sport und Bewegung im Mittelpunkt standen. Was haben sie in dieser Woche erlebt, gelernt erfahren?
Zuerst erzählt Frau Heidary, (Heimatland Afghanistan), dass ihr die Sportwoche gut gefallen hat. Es sei sehr interessant gewesen, alle seien nett gewesen, meint sie. Einen der Lehrer, Herr Keller, habe sie bereits gekannt. Das Essen, die Leute, der Sport, das Zusammensein mit Jugendlichen und der respektvolle Umgang miteinander hat sie sehr geschätzt.
Frau Enebeli (Heimatland Nigeria) berichtet über den Tagesablauf: zuerst Frühstück, ab 8:30 Uhr zwei Sporteinheiten, dann Mittagessen, später wieder zwei Sportlektionen bis 17.00 Uhr. Um 18:00 Uhr Abendessen. Gut zum Mitmachen, ein interessantes Programm.
Welche Sportarten wurden angeboten? Die Frauen suchen nach Wörtern wie Volleyball, Tennis, Fussball, Basketball, Tischtennis, Schach und Yoga. Sie zeigen Fotos, auf denen Jugendliche mit Keulen jonglieren und beschreiben ein japanisches Geschicklichkeitsspiel, dessen Namen, Kendama, wir im Internet finden.
Generationen- und Kulturaustausch
Auf die Frage, wie man sich als Frau mittleren Alters, als Mutter fühlt, wenn man eine Woche mit jungen Lernenden im Sportlager verbringt, meldet sich Frau Nuri (Heimatland Afghanistan). Sie habe zwei erwachsene Söhne, also eigene Erfahrungen im Umgang mit Jugendlichen. Das Verhalten der jungen Leute in der Sportwoche habe sie beeindruckt. Das Wort Respekt fällt erneut. Junge Leute, Lehrer und Lehrerinnen, das Servicepersonal, der Koch, alle seien sehr freundlich und hilfsbereit gewesen. Man unterstützte sich gegenseitig. Keine Probleme, meint sie, im Gegenteil. Sie sei nach neun Jahren wieder einmal weg aus ihrem Alltag gewesen. Eine Woche ohne Aufgaben im Haushalt, in Arbeit und Ausbildung. Da wurde der Kopf leicht und ruhig. Das hat ihr gefallen.
Frau Heidary spinnt den Faden weiter. Am Tisch habe man sich ausgetauscht über Herkunft, Alter und Familie. Sie habe selbst drei Kinder. Das Zusammenleben mit den Jugendlichen sei einfach gewesen. Sie sei gerne mit Menschen zusammen, mit jungen und alten. Gefreut hat sie, dass die Jugendlichen auf sie zugekommen sind. Sie habe sich in der Gruppe akzeptiert gefühlt. Gegessen hätten sie wie zuhause. Viel Salat und Gemüse, Spaghetti, Pizza und anderes mehr.
Auch Frau Enebeli äussert sich zum Thema Sportwoche mit Jugendlichen, deren Mutter sie sein könnte. Für sie sei es nicht so einfach gewesen auf die Leute zuzugehen. Das habe aber nichts zu tun mit den Jungen, den Kursleiter*innen und dem Hauspersonal. Sie sei von Natur aus eher scheu. Es wäre für sie einfacher gewesen, wenn sie zusammen mit den beiden anderen Frauen in einer Sportgruppe gewesen wäre. Dass dies nicht der Fall gewesen war, war eine echte Herausforderung. Dazu komme die deutsche Sprache. Sie verstehe das meiste, was man zu ihr sage. Aber selbst reden und Fragen beantworten? Da würden ihr manchmal die Worte fehlen. Darum sei es schon gut gewesen, dass sie mit den Jugendlichen auch das Sprechen üben konnte.
Sport im Heimatland und Sport heute in der Schweiz
Die Unterhaltung geht weiter mit dem Thema «Sport im Heimatland und Sport heute in der Schweiz». Die zwei Frauen aus Afghanistan erinnern sich beide an die Zeit, wo man in Afghanistan als Mädchen und Frau Sport machen konnte. Radfahren, Motorradfahren sei damals auch erlaubt gewesen. Doch seit die Taliban die Macht übernommen hätten, habe sich vieles verändert. Sie hätten über die Jahre - auch auf der Flucht - andere Ideen kennengelernt, ihren eigenen Weg gefunden, um ihr Leben im Einklang mit ihrer Kultur zu leben. Sport machen habe immer dazu gehört.
Frau Enebeli erzählt von ihrer Jugend in Nigeria, wo sie in der Primarschule Fussball gespielt hat. Das Singen in der Kirche sei auch mit viel Bewegung verbunden gewesen. Jetzt fährt sie fast täglich mit dem Velo von Erstfeld aus zur Arbeit ins Schattdorfer Ried, manchmal auch nach Schattdorf und zum Bahnhof Altdorf.
Sie würde morgens nach dem Aufstehen jeweils eine Viertelstunde Übungen machen. Yoga und Kraftübungen seien angesagt, um den Körper aufzuwecken, antwortet Frau Heidary auf die Frage nach der Bedeutung von Sport in ihrem Alltag heute. Frau Nuri gesteht, dass sie während der Woche kaum Zeit für Sport findet. Am Dienstagabend besucht sie mit den Arbeitskolleginnen den Deutschkurs am Berufs- und Weiterbildungszentrum Uri (BWZ URI) in Altdorf. Donnerstags fährt sie mit Frau Enebeli und Frau Heidary an die STF nach Zürich. Sonst arbeitet sie während der Woche hier in der Manufaktur KoKoTé in Schattdorf, lernt, macht Hauaufgaben und erledigt den Haushalt. Aber am Wochenende reicht die Zeit zum Joggen.
Alle Aufgaben und Pflichten blieben zuhause
Unsere Gesprächsrunde, die auch als Sprachübung in Deutsch gedacht ist, nähert sich dem Ende. Die Frauen haben einen Einblick in ihr Leben als ältere Lernende mit Fluchthintergrund gewährt. Sie haben gezeigt, dass sie sich in einer neuerlernten Sprache gut verständigen können, dass sie sich in unser Bildungs- und Gesellschaftssystem einfügen, ohne ihre Wurzeln zu verlieren.
Frau Enebeli fasst als erste ihre Eindrücke der Sportwoche zusammen: «Alles war gut: der Sport - besonders das Tennis- und das Volleyballspielen -, die Reise, die Stadt, die Berge, der Schnee. Das Schlafen mit den beiden Kolleginnen im Dreibettzimmer ging auch gut.» «Manchmal» – sie sucht nach dem richtigen Wort und lacht – «schnorchelten, nein schnarchten wir. Aber das war nicht so schlimm.»
Für Frau Nuri waren die Tage auf dem Kerenzer Berg Ferien vom Alltag. Alle Aufgaben und Pflichten blieben zuhause. Für das leibliche Wohl wurde bestens gesorgt. Ein ungewöhnlicher, positiver Zustand für sie. Im Zentrum gab es nur den Sport, das Zusammensein mit den Jugendlichen, das Hier und Jetzt und die gesunde Müdigkeit am Abend. Frau Nuri betont nochmals, dass dies ihre erste längere Auszeit seit neun Jahren war. «Eine Woche alles zuhause lassen macht den Kopf leicht und ruhig», wiederholt sie. «Und dann ist da noch die Geschichte mit der Yogalehrerin, Frau Meyer. Sie ist jung, elastisch und im achten Monat schwanger. Ich habe versucht, alle Bewegungen nachzumachen. Dabei strich ich mir nach ihrem Vorbild mehrfach über den Bauch. Als sie das bemerkte, lachte sie. Sie sagte, ich müsse das nicht machen, das gehöre nicht zur Yogaübung. Sie beruhige nur ihr Baby, das im Bauch strample. Wir haben alle so gelacht.»
Frau Heidary macht den Abschluss der Gesprächsrunde. Ihr Fazit zur Sportwoche: «Alles ist sehr gut gegangen, mein Körper braucht mehr Sport und Yoga. Dann geht es mir besser. - Und was geschieht mit unseren Fotos, die wir während der Sportwoche gemacht haben?»
Kurz darauf sitzen die drei Frauen wieder an ihrem Arbeitstisch vor ihrer Nähmaschine. Das Arbeitsmaterial wird unters Nähfüsschen geklemmt und die Maschinen beginnen zu rattern.
Es entstehen neue Taschen, Taschen, die den Frauen ihre Ausbildung, ihren Lebensunterhalt ermöglichen.
Association Equilibre
Der gemeinnützige Verein Association Equilibre (A.E.) engagiert sich seit 2015 mit dem Projekt KoKoTé und weiteren Massnahmen (Mentoringprogramm für Flüchtlinge, Integrationsvorlehre, Frauenförderungsprogramm) für die Bildung und Arbeitsintegration von älteren Personen mit Fluchthintergrund.
Shukriye Heidary (41), Amene Nuri (47) und Achinedu Enebeli (41) werden von der A.E. bei ihrer Ausbildung zur Textilpraktikerin EBA unterstützt. Sie arbeiten zu 60% für die Taschenmanufaktur KoKoTé und zu 40% für ihre eigene Ausbildung. Die A.E. stellt ihnen dazu eine Fachlehrerin, Mentor:innen und eine Bildungskoordinatorin zur Seite.